Eine viertel Seemeile
 

   Am Passantensteiger auf der Reede vor Stavoren liegt ein alter holländischer Stahlsegler. Der Pilot, Raimon, Belgier, hilft mir beim Anlegen und nimmt die Leinen an. Dann erzählt er mir, daß bei seinem Boot das Kielschwert komplett nach unten hängt, weil die Kette gerissen ist. Außerdem hätte sein Motor ein großes Loch an der Seite, aus dem das Kühlwasser ausströmen würde. Ob ich ihm helfen könnte?

   Wie ich vermutet habe, hat sich ein Gefrierstopfen am Zylinderblock gelöst. Dummerweise genau der hinter der Einspritzpumpe. Also erkläre ich ihm, wie man den Auspuffkrümmer, die Wasserpumpe und die Einspritzpumpe ausbaut und schärfe ihm ein, die Stellung des Antriebsrades der Einspritzpumpe nicht zu verändern.
   Drei Stunden später, es gab Probleme bei der Einspritzpumpe und wir haben keine technischen Unterlagen, ist die Motorseite mit dem fehlenden Gefrierstopfen zugänglich. Den fischen wir aus der Bilge. Und setzen ihn wieder ein.
   Der niederländische Wetterbericht (übertreibt selten) gibt inzwischen eine Sturmwarnung heraus mit einer Vorhersage für das Ijsselmeer: Sturm aus West mit Stärke Bft 10, in Böen Bft 11 !  West bedeutet, daß der Wind genau auf den Steiger steht, an dem wir liegen. Wir müssen also so bald wie möglich weg Richtung Binnen durch die Schleuse, hinter den Deich!
   Nach weiteren Stunden, das Schwert zu heben haben wir nicht versucht, zu schwer, ist der Motor wieder zusammengebaut. Aber er springt nicht an! Jetzt bleibt nicht mehr viel Zeit, der Wind hat schon Bft 9 und die Wellen haben zugenommen.

   Wir beschließen, den Segler längs der Cumulus zu nehmen und in die Schleuse zu fahren.

   Beim Anlaufen gelingt es Raimon nicht - beide Schiffe stampfen mächtig, aber nicht im gleichen Takt - , die Leinen auf dem Poller loszuwerfen und er kann deshalb auch nicht die Bugtrosse der Cumulus festmachen. Es ist sehr schwer, die Cumulus im Wind zu halten, denn eine kleine Abweichung genügt schon, den Bug schnell und sehr kräftig aus dem Wind zu drehen, was die Gefahr einer Kollision bedeutet. Erst der vierte Anlauf gelingt.

   Jetzt liegt die Seahorse, so heißt das andere Schiff, mit Vor- und Achterleine sowie einer Spring längseits der Cumulus und wir nehmen langsam Fahrt auf. Der Schleusenwärter muß uns die ganze Zeit beobachtet haben, denn kaum sind wir vom Steg frei, gehen die Einfahrtlichter auf rot/grün, die Schleuse ist am Öffnen. Wir müssen eine Drehung um 180° machen, die Schleuse liegt eine viertel Seemeile in unserem Rücken und der Wind und die Wellen stehen genau drauf.

   Plötzlich, mit einem peitschenden Knall, reißt die Achterleine, obwohl sie für eine Bruchlast 12 Tonnen ausgelegt ist, und die Seahorse, hinten nicht mehr gehalten und durch ihr herunterhängendes Schwert geführt, gibt dem Wind nach, legt sich mit 45 Grad auf die Seite und schneidet unter den Bug der Cumulus. Zum Glück richtet sie sich während der weiteren Drehung wieder auf, weil Raimon, der die Situation erkennt, Lose auf die Bugleine geben kann. Allerdings wird dadurch die Spring wirkungslos. Jetzt zerschlägt der Bug der Cumulus, der einen halben Meter höher als der der Seahorse ist, auf vier Meter Länge die Seereeling und das hölzerne Schandecksüll der Seahorse.

   Aber ich kann nicht stoppen! Ich muß steuern können! Die Schleuse kommt immer näher! Die Tore sind noch zu! Der Wind kommt mit  9 von hinten! Noch 80 Meter!

   Da! Endlich! Ein Spalt! Das Tor beginnt, sich zu öffnen! Noch 50 Meter! Ich kann nicht halten!

   Wir sind zusammen sieben Meter breit, die Schleuse 9 !  Ich weiß nicht, ob es reicht! Backbord kann ich nicht peilen, da ist die Seahorse. Ich kann nur versuchen, den Bug der Cumulus an Steuerbord so eng wie möglich an das sich öffnende Tor zu schmiegen und hoffen, daß das an Backbord genauso knapp klargeht. Noch 10 Meter!

   5 Meter!

   Ein leichtes Schaben, Kratzen, im tobenden Sturm nicht zu hören, nur zu ahnen - die hölzerne Steuerbord-Scheuerleiste der Cumulus streift das Tor, ein Fender wird nach hinten gerissen und hochgehoben. Aber wie ein Schlüssel ins Schloß schlüpfen die beiden Schiffe durch die sich weiter öffnenden Tore in die Schleusenkammer.
   Andere Segler helfen uns, die Festmacher zu belegen, während die Schaulustigen auf der Schleusenmauer, die die ganze Sache beobachtet haben, sich langsam zerstreuen. Wir dürfen ausnahmsweise gleich hinter der Schleuse festmachen und wettern da die nächsten beiden Tage den Sturm und die Böen mit Bft 11 in ruhigem Wasser ab.
 
 

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